Mit ihrem Buch* „YVA und ihre Zeit“ widmet sich die Kunsthistorikerin Kirstin Buchinger einer der faszinierendsten Figuren der deutschen Fotogeschichte: Else Neuländer-Simon (1900–1942?), besser bekannt unter ihrem Künstlernamen YVA.

Seestern-YVA-1930
YVA war mehr als nur eine erfolgreiche Modefotografin der Weimarer Republik. Sie war eine Avantgardistin, die die Ästhetik der modernen Frau neu erfand, die Modefotografie aus der reinen Abbildung befreite und zu einem künstlerischen Ausdruck formte. Ihre elegant inszenierten, oft experimentellen Fotografien verbanden technische Perfektion mit einem unverwechselbaren Gefühl für Bewegung, Rhythmus und Licht.
In den zwanziger Jahren zählte YVA zu den bekanntesten Fotografinnen Berlins. Ihr Atelier in der Schlüterstraße war Treffpunkt von Künstlern, Journalisten, Schauspielern und Intellektuellen. Ihre Arbeiten erschienen in großen Magazinen wie Die Dame, Der Uhu und Berliner Illustrierte Zeitung. Sie arbeitete mit führenden Modehäusern und Zeitschriften zusammen – und prägte das Bild der „Neuen Frau“ einer ganzen Generation.
Doch YVAs Erfolg war nur von kurzer Dauer. Als Jüdin wurde sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunehmend entrechtet und wirtschaftlich isoliert. 1938 musste sie ihr Atelier schließen und wurde als Röntgenassistentin in einer Berliner Klinik verpflichtet – eine bittere Ironie für eine Künstlerin, deren Leben vom Licht bestimmt war.

Charleston dancers
Im Jahr 1942 wurde YVA gemeinsam mit ihrem Ehemann Alfred Simon deportiert und im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Ihr Werk geriet weitgehend in Vergessenheit, viele Negative und Abzüge gingen verloren. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten begann eine behutsame Wiederentdeckung dieser außergewöhnlichen Künstlerin, deren Stil, Haltung und Modernität bis heute inspirieren.
Kirstin Buchinger, die sich bereits in früheren Publikationen mit der Fotografie der Weimarer Zeit und dem Schicksal ihrer Protagonistinnen befasst hat, nähert sich YVA auf mehreren Ebenen: biografisch, kunsthistorisch und kulturgeschichtlich.
Auf der Grundlage jahrelanger Recherchen in Archiven, Magazinen und Nachlässen rekonstruiert sie das Leben einer Frau, deren Name einst in den besten Kreisen der Kunst- und Modewelt kursierte, dann aber aus der kollektiven Erinnerung verschwand.


Sie wertet zahlreiche bislang unveröffentlichte Dokumente, Briefe und Zeitungsartikel aus und stellt YVA in den Kontext ihrer Zeit als Vertreterin einer jungen Generation von Fotografinnen vor, die sich im Berlin der 1920er Jahre emanzipierten; als Geschäftsfrau, die ihr Atelier professionell führte; als Lehrmeisterin, die jungen Talenten – darunter auch Helmut Newton – den Weg in die Fotografie ebnete; und schließlich als Opfer eines Regimes, das Kunst und Leben gleichermaßen vernichtete.
Buchinger erzählt nicht nur die Geschichte einer einzelnen Künstlerin, sondern zugleich die Geschichte einer Epoche, in der die Fotografie zu einem zentralen Medium der Moderne wurde.
YVAs Arbeiten stehen exemplarisch für eine Zeit, in der sich Rollenbilder, Ästhetik und Öffentlichkeit radikal wandelten: Frauen wurden sichtbar – nicht mehr nur als Objekte, sondern als Gestalterinnen.
Die Autorin analysiert die stilistischen Besonderheiten von YVAs Modeaufnahmen – die strenge Komposition, das Spiel mit Unschärfen, Spiegelungen und Bewegung – und zeigt, wie diese Bildsprache die damalige Wahrnehmung von Weiblichkeit und Modernität veränderte. Gleichzeitig verweist sie auf die ökonomischen und medialen Bedingungen, die den Erfolg weiblicher Fotografinnen jener Jahre ermöglichten – und später zerstörten.
YVAs Bildwelt wird so zum Spiegel einer Gesellschaft zwischen Aufbruch und Untergang.


Kirstin Buchinger gelingt es, wissenschaftliche Präzision mit erzählerischer Nähe zu verbinden. Sie vermeidet die Versuchung der Hagiografie und zeigt YVA nicht als Märtyrerin, sondern als moderne, selbstbewusste Frau, die ihre Zeit prägte – und an ihr zerbrach.
Ihr Schreibstil ist klar, anschaulich und von spürbarem Respekt getragen. Sie lässt YVAs Zeitgenossen sprechen, kontextualisiert mit Zitaten aus Modezeitschriften, Atelierberichten und Ausstellungsbesprechungen und schafft so ein lebendiges, facettenreiches Porträt.
Besonders beeindruckend ist, wie Buchinger die Bilder selbst „lesen“ kann: Sie beschreibt Lichtsetzungen, Posen, Materialien und Gesten mit der Sensibilität einer Kennerin, ohne sich in Fachjargon zu verlieren. So wird „YVA und ihre Zeit“ auch für ein breiteres kulturinteressiertes Publikum zugänglich.
Das 224 Seiten starke Softcover-Buch ist sorgfältig gestaltet und reich bebildert. Neben bekannten Arbeiten zeigt es auch seltene Aufnahmen, Studiofotografien und Zeitschriftenreproduktionen aus den 1920er Jahren. Viele der abgebildeten Werke stammen aus Privatbesitz oder aus dem Nachlass der Familie Neuländer, der erst vor wenigen Jahren erschlossen wurde.
Die Kombination von Text, Bild und Dokumenten verleiht dem Buch eine hohe Anschaulichkeit und macht es zu einem wichtigen Referenzwerk für alle, die sich mit Fotografiegeschichte, Gender Studies oder der Kultur der Weimarer Republik befassen.
Mit diesem Buch leistet Kirstin Buchinger nicht nur kunsthistorische Pionierarbeit, sondern auch einen Beitrag zur Erinnerungskultur. Sie macht deutlich, wie eng ästhetische Innovation und gesellschaftliche Freiheit miteinander verbunden sind – und wie sehr beides vom Nationalsozialismus zerstört wurde.
„YVA und ihre Zeit“ ist damit auch ein Buch über das Verschwinden – über das, was aus Archiven, Magazinen und Erinnerungen neu ans Licht gebracht werden muss, um Geschichte vollständig erzählen zu können.
YVA war eine Pionierin, deren Werk heute in Museen wie der Berlinischen Galerie, dem Museum für Fotografie oder der Pinakothek der Moderne gezeigt wird. Buchinger ordnet ihre Bedeutung in diesen Kanon ein und zeigt zugleich, dass es in YVAs Lebensgeschichte immer noch blinde Flecken gibt – Leerstellen, die zu weiterer Forschung anregen.
Mit „YVA und ihre Zeit“ legt Kirstin Buchinger das bislang umfassendste Werk über Else Neuländer-Simon vor – ein Buch, das wissenschaftliche Tiefe, erzählerische Kraft und ästhetische Sensibilität vereint.
Es erzählt nicht nur die Geschichte einer Künstlerin, sondern auch die einer Epoche, in der die Fotografie zu einer neuen Sprache der Moderne wurde – und in der Frauen wie YVA diese Sprache maßgeblich mitgeprägt haben.
Ein Buch für Fotohistorikerinnen, Sammlerinnen, Studierende und alle, die verstehen wollen, wie eng Kunst, Leben und Geschichte miteinander verwoben sind.
Ein Werk, das YVA ihren Platz im kulturellen Gedächtnis zurückgibt – und das Licht auf eine Zeit wirft, in der Bilder zu Spiegeln gesellschaftlicher Veränderung wurden.

*Kirstin Buchinger: YVA und ihre Zeit, erschienen bei GOLDENCALB Publishing, 224 Seiten, Softcover, ISBN: 978-3-944546-02-5, 39,90 Euro











