Seit gestern kann die breite Öffentlichkeit den Film The Stringer endlich selbst sehen – und sich ein eigenes Urteil bilden, statt nur auf Vorabkritiken, Festivalberichte oder die hitzigen Debatten der vergangenen Monate angewiesen zu sein. ProfiFoto Chefredakteur Thomas Gerwers hat The Stringer gesehen – und hier sind seine Eindrücke und Anmerkungen.

Carl Robinson wird im Film als moralisch geläuterter Wahrheitssucher präsentiert, ohne seine lange dokumentierte Feindschaft gegenüber der Associated Press zu erwähnen
Bekanntlich wirft der Film The Stringer nicht weniger als die Frage der Urheberschaft eines der berühmtesten Bilder des 20. Jahrhunderts auf – des „Napalm Girl“-Fotos aus dem Vietnamkrieg – und stellt die etablierte Version der Ereignisse in Frage.
Bereits vor der Veröffentlichung sorgte das für starke Reaktionen: Die Associated Press verteidigte den offiziell anerkannten Fotografen Nick Ut, World Press Photo setzte die Zuschreibung vorläufig aus, und in der Foto- und Medienwelt entbrannte eine kontroverse Diskussion über Erinnerung, Macht und koloniale Blickwinkel.
Jetzt, da der Film weltweit auf Netflix verfügbar ist, können Zuschauerinnen und Zuschauer selbst beurteilen, wie plausibel seine Darstellung und Beweisführung tatsächlich sind.

Gary Knight (rechts) ist in The Stringer Moderator, Ermittler, Erzähler und moralischer Kommentator in einer Person (hier im Sommer 2025 im Gespräch mit Thomas Gerwers)
Was der Film unbestreitbar gut macht, ist, eine bislang übersehene vietnamesische Perspektive sichtbar zu machen. Dass Nguyen Thanh Nghệ und seine Familie jahrzehntelang im Schatten eines weltweit ikonischen Fotos standen, wirkt bewegend und fordert Empathie geradezu heraus. Auch die Rekonstruktionen, die Interviews und der historische Rahmen sind handwerklich eindrucksvoll umgesetzt. The Stringer ist zweifellos ein starker, emotionaler Film.
Aber gerade deshalb lohnt es sich, umso genauer hinzusehen – denn die Beweisführung, mit der der Film seine zentrale These stützt, ist weniger stark, als die Inszenierung suggeriert.
Erstens fällt auf, wie einseitig der Film seine Quellen gewichtet. Carl Robinson wird als moralisch geläuterter Wahrheitssucher präsentiert, ohne seine lange dokumentierte Feindschaft gegenüber der Associated Press oder seine früheren polemischen Aussagen zu erwähnen. Dass Robinsons Motive komplexer sind, wird unterschlagen – ein entscheidender Hinweis, der das Bild der Doku deutlich weniger klar erscheinen ließe.
Zweitens wirkt die Auswahl der Zeugen auffallend selektiv. Aussagen, die Nick Ut stützen, fehlen weitgehend oder werden gar nicht erst thematisiert. So entsteht der Eindruck, der Film arbeite eher als Plädoyer denn als offene Untersuchung. Eine Dokumentation, die historische Wahrheit beansprucht, sollte Widersprüche sichtbar machen, nicht glätten.
Drittens stellt der Film seine forensischen Rekonstruktionen – 3D-Modelle, Bildvergleiche, Positionenschätzungen – als nahezu objektive Beweise dar. In Wirklichkeit beruhen sie auf Annahmen und Interpretation. Schon kleine Variablen können das Ergebnis ändern. Dass AP und andere Experten zentrale Elemente dieser Analyse als unsicher einstufen, erfährt man im Film nicht.
Viertens schadet dem Film seine Tendenz zur Dramatisierung. Musik, Schnitt und Erzählstruktur geben der Geschichte eine True-Crime-Atmosphäre, in der klar ist, wer Held und wer Schurke sein soll. Horst Faas wird posthum mit Vorwürfen belastet, ohne dass Gegenpositionen zu Wort kommen. Dass Nick Ut selbst nicht mehr im Zentrum steht, obwohl er die Hauptperson der Anschuldigung ist, erzeugt eine dramaturgische Schieflage.
So bleibt am Ende ein zwiespältiger Eindruck: The Stringer ist emotional eindrucksvoll, erzählerisch kraftvoll und zweifellos wichtig, weil er eine vernachlässigte vietnamesische Perspektive sichtbar macht. Aber als Versuch, eine historische Urheberschaft neu zu bestimmen, ist er zu unsicher, zu selektiv und zu sehr darauf angewiesen, Zweifel als Beweis zu behandeln. Die ästhetische Wucht des Films ist groß – doch sie trägt weiter, als seine tatsächliche Faktenbasis reicht.
Das Ergebnis ist ein Film, der eine wertvolle Debatte anstößt, aber die Grenzen dieser Debatte selbst nicht ausreichend offenlegt. Genau das sollte man wissen, wenn man ihn sieht: Hier spricht eine starke Geschichte, aber nicht immer die ganze.
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