Vom 18. April bis 17. Mai 2026 verwandelt das japanische Festival KYOTOGRAPHIE die Stadt Kyoto in eine weit verzweigte Galerie und lädt dazu ein, Fotografie an räumlichen, politischen und emotionalen Rändern zu erleben. Das Motto der 14. Ausgabe lautet „EDGE“ – ein Begriff, der sowohl Bruch als auch Übergang beschreibt.
- FOTO: ANTON CORBIJN
- FOTO: THANDIWE MURIU, Camo
- FOTO: LINDER STERLING
Das Kuratorenteam beschreibt „Edge“ als einen Ort der Unsicherheit und zugleich als Spannungszone zwischen Dokument und Kunst, Wahrheit und Fiktion, Krise und Neuanfang. Gerade in einer Zeit, in der Bilder unaufhörlich zirkulieren und sich technologische Sprünge rasant vollziehen, setzt KYOTOGRAPHIE bewusst auf fotografische Positionen, die diesen Kipppunkt reflektieren, statt ihn zu glätten. Das Festival möchte zeigen, wie sich an den Rändern – geografisch, sozial und mental – neue Formen der Wahrnehmung und des visuellen Erzählens entwickeln.
Konkreter als je zuvor wird dieser Anspruch im Programm 2026 sichtbar. KYOTOGRAPHIE präsentiert 13 Künstler aus acht Ländern, die das Thema „EDGE“ auf sehr unterschiedliche Weise aufgreifen. Im Kyoto City KYOCERA Museum of Art ist eine große Retrospektive von Daido Moriyama zu sehen, die von Sigma präsentiert und in Zusammenarbeit mit dem Instituto Moreira Salles sowie der Daido Moriyama Foundation realisiert wird. Moriyamas Schwarzweißbilder, die seit Jahrzehnten das Bild des urbanen Japan prägen, erscheinen im Kontext des Festivalthemas wie ein visuelles Archiv am Rand von Ordnung und Chaos.
- FOTO: THANDIWE MURIU
- FOTO: PIETER HUGO
- FOTO: DAIDO MORIYAMA
Mit Linder Sterling zeigt das Festival im Annex des Museum of Kyoto eine Position, die Fotografie, Performance und Collage zwischen Popkultur, Feminismus und Körperpolitik verortet. Die britische Künstlerin arbeitet seit den 1970er-Jahren an der Schnittstelle von Musik, Mode und Kunst und inszeniert den weiblichen Körper als umkämpften symbolischen Raum – eine sehr direkte Form des „Edge“, verstanden als Bruchkante zwischen Zuschreibung und Selbstbestimmung.
Einen ganz anderen, zugleich poetischen wie politischen Zugang verfolgt Juliette Agnel, deren Ausstellung von Van Cleef & Arpels unterstützt wird. Ihre fotografischen Welten oszillieren zwischen Landschaft, Mythos und innerem Bildraum und führen die Betrachterinnen und Betrachter an imaginäre Ränder, an denen Natur, Erinnerung und Projektion ineinandergreifen.
Besonders prägnant im Kontext von Identität und Repräsentation ist die Teilnahme von Thandiwe Muriu. Sie ist mit ihrer Serie „Camo“ im historischen Machiya-Haus Kondaya Genbei vertreten, präsentiert von Longchamp. In diesen Arbeiten verschmilzt sie ihre Porträtierten mit kraftvollen Musterwelten aus Stoffen und Alltagsobjekten und kommentiert auf ebenso spielerische wie kritische Weise die Sichtbarkeit afrikanischer Identitäten in einer globalisierten Bildkultur. Gleichzeitig ist Muriu auch als Teilnehmerin des KYOTOGRAPHIE African Residency Program präsent, mit einer weiteren Installation im Demachi Masugata Shopping Arcade, dem permanenten Raum des Festivals. Die Doppelpräsenz unterstreicht, wie stark KYOTOGRAPHIE auf langfristige Beziehungen mit Künstlerinnen und Künstlern setzt.
Mit Atsushi Fukushima ist eine markante Stimme der japanischen Gegenwartsfotografie im Programm vertreten. Seine Ausstellung, unterstützt von Fujifilm und gezeigt im Raum „ygion“, beschäftigt sich mit Randlagen und Zwischenräumen der japanischen Gesellschaft und verweist damit direkt auf die sozialen „Edges“ des urbanen Alltags.
Die französischen Fotografen Yves Marchand & Romain Meffre sind mit ihrem Projekt über ruinöse Architekturen dabei. Bereits der Hinweis „Ruines de Paris“ deutet an, dass es um das fragile Nachleben von Städten geht, um Bauteile einer Epoche, die im Zerfall eine eigene Ästhetik entwickeln. Ihre Arbeit liest Stadtlandschaften als Archiv von Krisen und Umbrüchen und verhandelt damit buchstäblich den Rand zwischen Nutzung und Aufgabe, Vergangenheit und Zukunft.
Auch aus der Welt des Porträts und der Popkultur setzt KYOTOGRAPHIE 2026 starke Akzente. Anton Corbijn zeigt im SHIMADAI GALLERY KYOTO eine Auswahl seiner ikonischen Arbeiten, präsentiert von agnès b. und mit Unterstützung der niederländischen Botschaft. Seine Schwarzweißporträts von Musikerinnen und Musikern – darunter auch David Bowie – haben die visuelle Grammatik des Rock- und Pop-Mythos über Jahrzehnte hinweg geprägt und führen eindrucksvoll vor, wie sich die Grenzlinie zwischen Person und Persona im fotografischen Bild verschiebt.
Mit Federico Estol ist der KG+SELECT Award Gewinner von 2025 in das Hauptprogramm aufgestiegen. Seine Serie „Shine Heroes“ ist eine Zusammenarbeit mit bolivianischen Schuhputzern, die in Superheldenkostümen auftreten. Die Arbeiten bewegen sich an der Grenze zwischen Dokumentation, Aktivismus und Inszenierung und verhandeln würdevoll jene soziale „Edge“, an der Marginalisierung kippen könnte – und durch Selbstermächtigung sichtbar gemacht wird.
Ein programmatischer Schwerpunkt von KYOTOGRAPHIE 2026 liegt zudem auf Südafrika. Unter dem Titel „SOUTH AFRICA IN FOCUS“ werden mehrere Positionen gezeigt. Die A4 Arts Foundation präsentiert in der Hachiku-an Residenz die Ausstellung „Photo book! Photo-book! Photobook!“, die das Medium Fotobuch als eigenständigen Denkraum ernst nimmt. Gleichzeitig werden Arbeiten von Lebohang Kganye, Pieter Hugo und Ernest Cole gezeigt. Lebohang Kganye verbindet in ihren Bildern Familiengeschichte, Performance und Collage und reflektiert Fragen von Erinnerung und Zugehörigkeit. Pieter Hugos Ausstellung „What the Light Falls On“ im KYOCERA Museum of Art thematisiert Menschen und Landschaften in Situationen des Übergangs. Ernest Coles historische Serie „House of Bondage“, realisiert in Zusammenarbeit mit Magnum Photos, zeigt den Alltag unter der Apartheid und macht deutlich, wie Fotografie an politischen Rändern Zeugnis ablegt und gleichzeitig ein visuelles Gedächtnis schafft.
Ergänzt wird das Programm durch die Präsentation von Sari Shibata, Gewinnerin des Ruinart Japan Award 2025, die im Ausstellungsraum Asphodel gezeigt wird, sowie durch Arbeiten von Fatma Hassona, die in der Hachiku-an Residenz ausstellt. Beide Positionen schlagen thematische Brücken zu Fragen von Identität, Lokalität und globaler Verflechtung.
All diese Ausstellungen verdeutlichen, warum KYOTOGRAPHIE in der globalen Fotowelt eine besondere Rolle spielt. Das Festival bringt nicht nur namhafte und aufstrebende Künstlerinnen und Künstler zusammen, sondern choreografiert ihre Arbeiten in einer Stadt, deren Geschichte, Architektur und Atmosphäre selbst wie ein weiterer Akteur auftreten. In Kyoto entsteht so ein dichtes Geflecht aus Bildern, Räumen und Themen, das weit über das klassische Format einer Fotoausstellung hinausgeht.
In einer Zeit, in der Fotografie immer wieder zwischen Kunstform, Nachrichtenbild und digitaler Alltagssprache hin- und hergerissen wird, bietet KYOTOGRAPHIE 2026 einen konzentrierten Ort der Reflexion. Hier wird sichtbar, dass die „Edges“ unserer Welt nicht nur Bruchlinien sind, sondern auch Zonen der Imagination, in denen sich neue Narrative, neue Empathien und neue visuelle Sprachen entwickeln können.
Foto oben: THANDIWE MURIU, Camo


















