Der britische Fotograf Martin Parr ist tot. Er starb am 6. Dezember 2025 im Alter von 73 Jahren in seinem Zuhause in Bristol, wie die Martin Parr Foundation und Magnum Photos mitteilten. Der an Myelom erkrankte Dokumentarfotograf galt seit Jahrzehnten als einer der einflussreichsten Bildchronisten des modernen Lebens.

Martin Parr im Oktober 2025 bei der Eröffnung der aktuellen Ausstellung Grand Hotel Parr in Nürnberg
Parr, 1952 im südenglischen Epsom geboren, war der vielleicht bekannteste Erzähler britischer Alltagskultur – und einer ihrer schärfsten Beobachter. Seine Fotografien, mit kräftigen Farben, hartem Blitzlicht und unbarmherziger Nähe, machten Strände, Buffets, touristische Hotspots und Vereinsfeste zu Brennpunkten sozialer Analyse. Das vermeintlich Banale wurde bei ihm zum Verdichtungsraum von Klassenzugehörigkeit, Konsum und Selbstinszenierung.
Seinen Durchbruch feierte Parr Mitte der 1980er-Jahre mit The Last Resort, einer Serie aus dem Badeort New Brighton bei Liverpool. Familien, Plastikstühle, Müll, Pommes – Parr richtete seine Kamera auf das Ferienleben der Arbeiterklasse in einer Zeit ökonomischer Umbrüche. Die Bilder waren grell, laut, übervoll; sie brachen nicht nur mit der Ästhetik der klassischen Schwarzweiß-Reportage, sondern auch mit dem Bild, das Großbritannien gerne von sich selbst sah.
Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Der Mann aus dem Süden, selbst aus der Mittelschicht, sehe auf „die anderen“ herab, lautete ein Vorwurf, der Parr durch seine Karriere begleitete. Er selbst beharrte darauf, mit Zuneigung und Neugier zu fotografieren – sein Spott richte sich eher gegen Systeme als gegen Individuen. Der Erfolg gab ihm recht: The Last Resort gilt heute als Wendepunkt der britischen Dokumentarfotografie.
Es folgten Serien wie The Cost of Living, Small World und Common Sense, in denen Parr den Blick weitete – vom britischen Klassensystem zum globalen Konsum, vom Wochenend-Ausflug zur weltweiten Tourismusindustrie. Seine Arbeiten wurden in Museen und Festivals auf der ganzen Welt gezeigt; er veröffentlichte Dutzende Fotobücher und wurde zu einer prägenden Figur der internationalen Fotoszene.
1994 wurde Parr Vollmitglied der Agentur Magnum Photos. Der Schritt war intern umstritten – zu grell, zu ironisch, zu wenig heroisch sei seine Sicht auf die Welt, fanden manche Kollegen. Am Ende setzte er sich durch und wurde 2014 sogar Präsident der legendären Agentur.
Parrs Bilder sind selten schmeichelhaft, aber fast immer präzise. Sie zeigen Sonnenbrand und Plastikgeschirr, Kitsch-Souvenirs und erstarrte Lächeln, überfüllte Buffets und müde Gesichter. Wer seine Arbeiten nur als Spott liest, unterschätzt ihren dokumentarischen Wert: Parr interessierte sich für das, was passiert, wenn Ideale von Wohlstand, Freizeit und Identität auf die Realität der Massen treffen.
Sein Stil wurde häufig kopiert, seine Bildsprache – satte Farben, Überstrahlung, frontal geblitzte Nähe – zum visuellen Code einer ganzen Generation von Fotografen und Werbekampagnen. Zugleich blieb er umstritten: 2020 sah er sich Kritik im Zusammenhang mit einem Fotobuch aus den 1960er-Jahren ausgesetzt, dessen Neuausgabe er mit einem Text begleitet hatte; er zog sich damals kurzfristig als künstlerischer Leiter eines Festivals zurück.
2017 gründete er in Bristol die Martin Parr Foundation, eine Institution zur Förderung und Archivierung britischer und irischer Dokumentarfotografie. Die Stiftung sammelt, zeigt und vermittelt Fotografie – und sichert zugleich das eigene Archiv des Künstlers. Gemeinsam mit Magnum Photos soll sie nun sein Werk langfristig zugänglich halten.
Parr war nicht nur Fotograf, sondern auch Sammler und Historiker der Fotografie. Mit der mehrbändigen Publikation The Photobook: A History trug er maßgeblich dazu bei, das Fotobuch als eigenständige Kunstform ernst zu nehmen.
Martin Parr hinterlässt ein Œuvre, das weit über den oft zitierten „britischen Humor“ hinausgeht. Seine Arbeiten sind gleichzeitig komisch und schmerzhaft, überzeichnet und genau. Sie zeigen ein Großbritannien – und eine westliche Welt –, die zwischen Nostalgie und Gegenwart, Konsum und Einsamkeit, Selbstbild und Fremdbild hin- und hergerissen ist.
In einer Zeit, in der Bilder im Sekundentakt produziert und konsumiert werden, bestand Parr darauf, genau hinzusehen: auf das, was wir für nebensächlich halten. Seine Fotografien halten dieser vermeintlichen Nebensache den Spiegel vor – und damit auch uns.
Er hinterlässt seine seine Frau Susie, seine Tochter Ellen, seine Schwester Vivien sowie seinen Enkel George.













