Mit Diane Arbus: Konstellationen zeigt der Gropius Bau noch bis zum 18. Januar 2026 die bislang umfassendste Ausstellung der US-Fotografin – und eine Präsentation, die bewusst jede Erwartung an Ordnung, Biografie und kunsthistorische Handführung unterläuft.

Diane Arbus, Lady bartender at home with a souvenir dog, New Orleans, La. 1964 (© The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation
Die Schau entstand in Zusammenarbeit mit LUMA Arles und wurde kuratiert von Matthieu Humery (Curator at Large, LUMA Arles). Nach der Premiere im LUMA-Komplex in Arles und einer Station in der Park Avenue Armory in New York – Arbus’ Heimatstadt – markiert Berlin nun die dritte Station. Zugleich kehrt Arbus an einen vertrauten Ort zurück: Bereits 2012 präsentierte der Gropius Bau die erste große Arbus-Einzelausstellung in Berlin; aktuell zeigt das Haus mehr als doppelt so viele Werke wie damals: Über 454 Schwarz-Weiß-Fotografien entfalten ein labyrinthisches Panorama aus Körpern, sozialen Räumen, Blickachsen und Irritationen.

Diane Arbus wurde 1923 in New York City geboren – in eine wohlhabende jüdische Kaufhausfamilie, fernab der sozialen Ränder, die später ihr ikonisches Thema wurden. Sie studierte Fotografie bei Größen wie Berenice Abbott, Alexey Brodovitch und Lisette Model, bevor sie 1960 erstmals in Esquire publizierte.
1963 und 1966 folgten zwei Guggenheim Fellowships – ein seltener Vorgang in so kurzer Abfolge. 1967 war sie eine der drei Fotografinnen in New Documents, der bahnbrechenden Ausstellung von John Szarkowski im MoMA – ein Wendepunkt, der dokumentarische Fotografie als gesellschaftliche Intervention neu definierte.
Arbus fotografierte überwiegend in New York der Nachkriegszeit: Paare, Familien, Kinder, Drag-Performerinnen, Nudistinnen, Zirkusleute und Freak-Shows, aber auch Intellektuelle wie Susan Sontag, Popkultur-Ikonen wie James Brown und Mae West.
Um 1962 vollzog sie einen entscheidenden Wechsel: Weg vom Kleinbild, hin zur Mittelformatkamera auf Hüfthöhe. Durch diesen technischen Shift – und die körperliche Nähe, die er ermöglichte – entstand jene direkte, ungeschützte Blickbeziehung, die ihr Werk unverwechselbar macht.
„I arrange myself“, hat Arbus über ihr Arbeiten gesagt – sie ordnet nicht die Welt, sondern die eigene Haltung in ihr.
Arbus starb 1971. Erst danach entwickelte sich ihre fotografische Wirkungsmacht. Mit A box of ten photographs (1969–71) schuf Arbus ihr Vermächtnis – das Portfolio, das Richard Avedon (zweimal), Jasper Johns und Harper’s-Bazaar-Art-Direktorin Bea Feitler privat erwarben. Arbus war die erste Fotografin überhaupt, die auf der Biennale von Venedig gezeigt wurde. Ihre Monografien – u. a. An Aperture Monograph (1972), Magazine Work (1984), Revelations (2003), Documents (2022) – sind Standardwerke der Fototheorie.
Ihr früherer Schüler Neil Selkirk ist bis heute die einzige Person, die autorisiert ist, Abzüge nach ihren Originalnegativen herzustellen. Die Schau im Gropius Bau vereint erstmals alle 454 Selkirk-Abzüge – und organisiert sie nicht chronologisch, nicht thematisch, sondern als Raum der Resonanzen.

Die schwarzen Gitterwände formen ein Labyrinth: kein Führungssystem, kein pädagogisches Gerüst. Die Besucher müssen navigieren: verlangsamen, neu ansetzen, hinschauen.
Was manche als „Überforderung“ interpretieren, ist die kuratorische Ethik dieses Projekts: Arbus’ Werk entzieht sich Erklärung.
Arbus fotografiert nicht Außenseiter – sie fotografiert Relationen, Macht, Wahrnehmung. Sie zeigt nicht „das Abweichende“, sondern die Ränder der Norm – die Zonen, in denen Identität kippt, Gender fluktuiert, Körper Bedeutungen verlieren.
Arbus schrieb: „Photographs are the proof that something was there and no longer is. Like a stain.“ Ein Fleck ist kein Ornament – er ist der Rest dessen, was nicht verschwindet. Arbus’ Bilder sind nicht Therapie, sie sind Beharrung. Sie bleiben, wenn der Blick sich wendet.
„You can turn away but when you come back, they’ll still be there looking at you.“ Dass eine Ausstellung diese radikale Gleichzeitigkeit nicht „einhegt“, sondern aussetzt, ist keine Zumutung, sondern produktive Spannung.
Der Gropius Bau zeigt mit Konstellationen nicht nur eine Künstlerin – sondern seine eigene Geschichte: Große Fotoausstellungen von Avedon, Cartier-Bresson, Walker Evans, Barbara Klemm, Herlinde Koelbl, Dayanita Singh und Zanele Muholi machten das Haus zu einem Zentrum fotografischer Selbstvergewisserung.
Direktorin Jenny Schlenzka formuliert klar: „Ihre bahnbrechenden Arbeiten haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Fotografie als Kunstform anerkannt wurde.“ Konstellationen ist daher kein nostalgisches Großprojekt, sondern ein Statement: Fotografie ist Denken, nicht Dekoration.
Die Ausstellung delegiert Deutung: Nicht die Institution entscheidet, nicht das Narrativ,
nicht die Biografie. Es entscheidet der Blick. Wer Erklärung erwartet, wird Reibung spüren. Wer bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, erlebt Arbus als anthropologische Wucht.
Konstellationen ist keine Retrospektive. Es ist ein Experiment darüber,
was geschieht, wenn Bilder nicht beruhigen – sondern bestehen.
(Ausstellungskritik von Thomas Gerwers)
Fotos: Diane Arbus: Konstellationen, Installationsansicht, Gropius Bau, 2025 (© Gropius Bau, Foto: Rosa Merk. Alle Kunstwerke © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation)











