Der im Dietrich-Reimer-Verlag erschienene Sammelband „Die Fotografie und ihre Institutionen. Von der Lehrsammlung zum Bundesinstitut“ führt erstmals die verstreuten Forschungen zur deutschen Fotoinstitutionsgeschichte systematisch zusammen.
Herausgegeben von Anja Schürmann (KWI Essen) und der Marburger Fotohistorikerin Kathrin Yacavone, reagiert das Buch* unmittelbar auf die seit 2019 geführte Kulturdebatte um ein künftiges „Bundesinstitut für Fotografie“ und bietet dafür eine historische Tiefenschärfe, ohne die politische Entscheidungen zwangsläufig ins Leere liefen.
In ihrer Einleitung zeichnen die Herausgeberinnen nach, wie das Medium Fotografie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zwischen den Polen „Dokument“ und „Monument“ changierte; an dieser Spannung entzünden sich bis heute Fragen nach Sammelwürdigkeit, konservatorischen Strategien und kuratorischer Wertsetzung.
Auf dieser theoretischen Folie entfalten die fast dreißig Beiträge – ergänzt um neun Interviews mit Kuratoren, Archivleiter und Marktakteure – eine feingliedrige Institutionsgeschichte: Lehrsammlungen an Kunst- und Gewerbeschulen, die Pionierrolle Otto Steinerts im Museum Folkwang, das Aufkommen wissenschaftlicher Fotogeschichte ab den 1970er-Jahren, die Rolle der photokina und des Kunstmarkts bei der ästhetischen Kanonisierung, aber auch die bisher wenig beachteten Industriefoto-, Presse- und Stadtarchive. Dieser dezentrale Fächer zeigt, dass fotografische Institutionalisierung in Deutschland eher bottom-up verlief und bis heute von regionalen, thematischen und ökonomischen Spezifika getragen wird – ein Befund, der die Idee eines stark zentralisierten Bundesinstituts zugleich beflügelt und relativiert.
Mehrere Aufsätze widmen sich den Herausforderungen des digitalen Wandels: Welche Rolle spielen Metadaten, wenn Negative verschwinden? Wie lässt sich die Authentizität von RAW-Dateien sichern? Und welche technischen wie rechtlichen Infrastrukturen braucht ein nationales Kompetenzzentrum angesichts massenhaft in Social-Media-Plattformen gespeicherter Bilder? Die Autorinnen zeigen, dass tradierte archivische Prinzipien – etwa das Provenienz- gegen das Pertinenzprinzip – sich unter den Bedingungen wachsender Datenmengen neu justieren müssen. Zugleich wird deutlich, dass ethische und dekoloniale Fragestellungen längst Kernaufgaben der Sammlungsarbeit sind: Expeditionen ins koloniale Archiv, Restitutionsdebatten und Provenienzrecherchen bestimmen heute, was gesammelt, gezeigt oder digital zugänglich gemacht werden darf.
Der Band schließt mit einer achtzehnseitigen Zeitleiste aller wichtigen Vereins-, Archiv- und Museumgründungen sowie Gesetzesinitiativen von 1845 bis 2024 und liefert damit einen praktischen Wegweiser für Forschende, Kulturpolitiker und Museumspraktiker, die vorhandene Ressourcen vernetzen oder neue Förderstrukturen schaffen wollen. Insgesamt macht „Die Fotografie und ihre Institutionen“ deutlich, dass die Zukunft eines Bundesinstituts nicht im Aufbau einer konkurrierenden Mega-Sammlung liegt, sondern in der moderierenden und forschungsorientierten Bündelung einer bereits reichen, aber heterogenen Fotolandschaft – von der ersten Lehrsammlung bis zur KI-gestützten Langzeitarchivierung.
* Dietrich Reimer Verlag, 469 S., 80 farb. Abb., ISBN 978-3-496-01708-0