Mit der Guest Edition der WELT AM SONNTAG am 13./14. Dezember 2025 hat Andreas Gursky nicht einfach eine Zeitung „illustriert“, sondern ein Medium umcodiert: Die Ausgabe ist als künstlerisch kuratierte Sonderausgabe angelegt, die journalistische Inhalte mit einer durchgängigen Bildauswahl Gurskys verbindet.

Entscheidend ist dabei weniger, dass Gursky-Bilder in einer Zeitung erscheinen, sondern wie sie dort funktionieren. Im klassischen Zeitungsdesign sind Bilder in der Regel dienend: Sie belegen, veranschaulichen, emotionalisieren oder strukturieren. In der Guest Edition verschiebt sich diese Hierarchie. Die Fotografie tritt als eigenständige Bedeutungsebene auf – nicht als Untertitel der Nachricht, sondern als visuelle Parallelrede. Das entspricht Gurskys generellem Verfahren: Seine Bilder sind keine „Momente“, sondern kompositorische Systeme, die Ordnung, Wiederholung, Masse und Struktur sichtbar machen.
Gerade dadurch wird die Zeitung selbst zum Dispositiv: ein Leseapparat, der nicht nur Informationen transportiert, sondern Wahrnehmung organisiert. Das ist fototheoretisch hochinteressant, weil es die alte Frage neu stellt, wofür Fotografie in der Öffentlichkeit da ist: Beweis, Illustration, Erzählung – oder Denken in Bildern?
Gursky spricht in der begleitenden Redaktion/Interview-Konstellation in der WELT-Berichterstattung zur Guest Edition darüber, dass seine Arbeiten aus Verdichtung entstehen und nicht „bloß abbilden“, sondern eine Art höhere, strukturierte Wirklichkeit herstellen.
Das ist der zentrale Clash – und zugleich der Reiz – der Zeitungsform: Gurskys Bilder, die im Kunstkontext oft als großformatige, auratische Wandarbeiten wirken, treffen hier auf ein Medium, das für Schnelligkeit, Austauschbarkeit, Wegwerfen gebaut ist. Walter Benjamins These vom Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wird plötzlich praktisch: Die Zeitung ist die radikalste Form der Reproduktion – und dennoch kann sie (für zwei Tage) als Ausstellungsraum funktionieren.
Besonders spannend ist, dass die Zeitung nicht nur Bilder abdruckt, sondern durch Sequenz, Nachbarschaft und Maßstab Bedeutungen erzeugt: Ein Foto „liest“ sich anders, wenn es neben Politik, Wirtschaft oder Feuilleton steht, als im White Cube oder im Fotobuch. Das ist ein Wechsel vom Bild als Objekt zum Bild als Kontext-Operator: Es stiftet Atmosphäre, setzt Kontraste, öffnet Interpretationsräume – ohne eine eindeutige Caption-Logik zu erzwingen.
Hier nähert sich die Ausgabe eher einer kuratierten Publikation oder einem künstlerischen Reader als einer Sonderstrecke. Dass ein ausführliches Interview in diesem Umfeld platziert ist, verstärkt den Eindruck eines bewusst komponierten „Werkzusammenhangs“ statt einer bloßen Kooperation.
Fototheoretisch lässt sich das auch als Remediation lesen: Ein Medium (zeitgenössische Kunstfotografie) „übersetzt“ sich in ein anderes (Zeitung) und verändert dabei beide. Die Zeitung gewinnt eine künstlerische Langsamkeit; die Kunstfotografie gewinnt eine ungewohnte Öffentlichkeit. Das ist kein Detail, sondern eine kulturpolitische Setzung: Fotografie erscheint hier nicht als Lifestyle-Dekor, sondern als Form, gesellschaftliche Wirklichkeit zu strukturieren.
Die Guest Edition demonstriert, dass Fotografie im editorialen Raum mehr sein kann als visueller Beleg. Sie kann Takt, Temperatur und Denkraum liefern. Und sie macht sichtbar, wie stark die Bedeutung eines Fotos nicht nur im Motiv liegt, sondern im Ort seiner Veröffentlichung: im Papier, im Format, im Layout, in der Nachbarschaft der Texte.
Für die Fotografie-Community ist das vor allem ein bemerkenswertes Signal: Ein Leitmedium lässt zu, dass ein Fotograf nicht „bebildert“, sondern bildredaktionell interveniert – ein seltenes Experiment, das zeigt, wie produktiv das Spannungsfeld aus Kunstfotografie, Massenreproduktion und journalistischer Gegenwart sein kann.













