Der renommierte Fotograf James Philip „Jimmy“ Nelson wurde mit dem Photography Appreciation Award der HIPA ausgezeichnet. Mit ProfiFoto sprach er anlässlich der Preisverleihung in Dubai.
ProfiFoto: Jimmy Nelson, herzlichen Glückwunsch zum Photography Appreciation Award der HIPA, der mit 100.000 US-Dollar dotiert ist. Wie haben Sie erfahren, dass Sie der Gewinner sind?
Jimmy Nelson: Per E-Mail. Meine erste Reaktion war, dass es sich wahrscheinlich um Spam handele, denn ich glaube, wir alle haben schon E-Mails erhalten, in denen uns mitgeteilt wurde, dass wir der glückliche Gewinner sind.
Ich habe mich noch nie an einem Wettbewerb beteiligt, denn ich konkurriere auf meiner persönlichen Reise vor allem mit mir selbst, nicht unbedingt mit anderen. Nach zwei oder drei Telefonaten und WhatsApp-Nachrichten hat das HIPA-Team mich aber dann davon überzeugt, dass der Gewinn Realität ist, was tatsächlich eine unglaubliche Überraschung war.
Hat die HIPA Sie ausgewählt, weil Sie aktuell im Nahen Osten fotografieren?
Ich kommuniziere eigentlich nicht, woran ich im Moment arbeite. Ich arbeite als Künstler mit der Identität anderer Menschen und ihrer Kultur. Es ist nicht meine Kultur, nicht meine Identität, nicht mein Gesicht, es ist ihr Gesicht. Bevor ich dazu etwas veröffentliche, möchte ich den Menschen, deren Bild ich gemacht habe, eine Rückmeldung geben.
Verraten Sie uns trotzdem etwas mehr über das aktuelle Projekt?
Bei meinem aktuellen Projekt geht es um das kulturelle Erbe der islamischen Welt. Der Arbeitstitel lautet „Die Fäden des Lichts“. Bei meiner Arbeit geht es schließlich darum, das Licht als Gegensatz zur Dunkelheit zu sehen und dem Betrachter ein besseres, umfassenderes Verständnis der Menschen zu vermitteln, die anders leben, als wir es tun. Wenn man über den Orient spricht, sind die Leute schnell voreingenommen. Der romantisierende Projekttitel soll dazu beitragen, dass die Menschen die Bilder mit offeneren Herzen betrachten, denn dieser Teil der Welt wurde in den letzten 40 Jahren zwar häufig fotografiert und gefilmt. Aber es gibt nur sehr wenige positive Darstellungen über diesen traditionell sehr reichen Teil der Welt. Ich möchte gerne ein ästhetisches Dokument des Nahen Ostens schaffen, das noch nie zuvor gemacht wurde, um seine Geschichte zu verändern.
Wie lange arbeiten Sie an einem solchen Projekt?
Jedes Projekt braucht im Durchschnitt etwa vier Jahre, davon etwa zweieinhalb Jahre für die Produktion der Fotos, ein halbes Jahr für das Design des Buches und dann ein Jahr für dessen Veröffentlichung und Vertrieb. Wir machen das selbst und finanzieren so unsere Stiftung, die Jimmy Nelson Foundation. Die Idee ist, dass ein großer Prozentsatz unserer Einnahmen zurückfließt. Ich habe kaum Geld, aber ich bin sehr reich, weil ich gebe. Mit meiner Arbeit finanziere ich unsere Galerie in Amsterdam, und dann veröffentlichen wir natürlich unsere Bücher. Ich glaube an das Prinzip von Gegenseitigkeit, mal gibt man, und mal erhält man etwas zurück. Mir wird sehr viel gegeben. Ich erhalte eine Fülle von Einsichten und Wissen, von Verbindungen, von Verständnis. Ich muss genauso viel, wenn nicht mehr, zurückgeben.
Aber idealisiert die ästhetisierende Art und Weise, wie Sie die Menschen zeigen, nicht die Realität in vielen dieser Länder?
Ich erzähle eine Geschichte. Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Deshalb sind alle Bilder, die ich mache, wahr. Ich zeige die Menschen in ihrer traditionellen Kleidung, ihrer Umgebung, ihrer Landschaft. Ich verbringe Wochen damit, mit ihnen gemeinsam eine Vision zu entwickeln, wie sie gesehen werden wollen und wie ich ihre Welt sehe. Nichts davon ist digital bearbeitet. Alles ist analog fotografiert.
Aber die Fotos sehen schon irgendwie artifiziell überhöht aus?
In unserem Teil Welt – in Deutschland ebenso wie in den Niederlanden – zeigen 95 % der Bilder in den Medien die Welt in idealisierter Form, ohne dass wir dadurch unsere Realität in Frage stellen. Wir präsentieren uns gern in einer Welt der Schönheit, Jugend und Eleganz; besser, wohlhabender, reicher und klüger, als wir tatsächlich sind. Ich mache mit meinen Protagonisten dasselbe. Ich möchte die Menschen so zeigen, wie auch wir selbst uns präsentieren wollen.
Wie haben Sie zu diesem Konzept gefunden?
Im Grunde mache ich Selfies … Die Schönheit, die ich in anderen sehe, möchte ich in mir selbst erkennen, so, wie ich sie schon als Kind empfunden habe. Bis zu meinem siebten Lebensjahr bin ich um die Welt gereist. Mein Vater war Geologe. So lebten wir in Papua-Neuguinea, im Kongo, in Nigeria, in Sierra Leone, in Kamerun, in Venezuela, im Iran und in Pakistan. Als ich sieben Jahre alt wurde, schickten meine Eltern mich nach Großbritannien in ein Internat. Dort gab es 1.000 Kinder und 400 katholische Priester. Und zwei dieser Priester beschlossen, Dinge mit mir zu tun, die man mit Kindern nicht tun sollte. Das hatte zur Folge, dass die Liebe und Akzeptanz, die ich für mich selbst und für andere empfand, zerstört wurde. Ich habe ein Geheimnis daraus gemacht, denn mir wurde gesagt, es sei meine Schuld, was mir angetan wurde, denn in mir stecke der Teufel.
Von totaler Akzeptanz führte das zu totaler Verschlossenheit. Als ich 16 Jahre alt war, befand ich mich in einer tiefen Krise. Ich bekam eine schwere Malaria. Man gab mir die falschen Medikamente. Sie sperrten mich für zwei Tage in ein Zimmer, und in einer Nacht fielen mir sämtliche Haare aus. Alle reagierten schockiert auf mein verändertes Aussehen. Dass mit mir offenbar etwas nicht stimmt, wusste ich schon vorher, aber bis dahin war es mein Geheimnis. Jetzt aber konnten es alle sehen. Ich war ein Teenager und so gebrochen, dass ich sterben wollte.
Das Einzige, was mir helfen konnte, war, mein Selbstbild neu zu definieren. Mit 17 bin ich daher weggelaufen. Ich kaufte mir ein One-Way-Ticket nach China und lebte drei Jahre lang in Tibet unter Menschen, die so aussahen wie ich, und die mir sagten: Komm, wir sehen dich. In diesen drei Jahren begann ich wieder zu atmen.
Ich hatte eine kleine, alte Kamera dabei. Als ich mit 19 aus Tibet zurückkehrte, wurden ein paar meiner Bilder veröffentlicht – keine Reportagefotos von zerstörten Klöstern oder Chinesen mit Gewehren, sondern sehr einfache Porträts von Menschen, die meine Hände hielten. Und genau die fotografiere ich auch heute noch. Es geht mir nicht darum, fotografisch zu dokumentieren. Ich zeige die Menschen in ihrer Schönheit, die ich nach 40 Jahren auch wieder in mir selbst zu erkennen beginne.
Deine Fotografie ist also eine Art von Selbst-Therapie? Wie erklärt sich der Erfolg der Arbeiten?
Das zu erklären könnte ein ganzes Buch füllen. Es begann wie gesagt mit ersten Veröffentlichungen einiger meiner Bilder aus Tibet. Daraus folgte die Erkenntnis, dass man mit Fotografieren Geld verdienen kann. Und so begann die Reise. Aber es war kein einfacher Weg, denn auch, wenn es heute vielleicht noch schwieriger ist als damals, vom Fotografieren zu leben, war es auch vor 40 Jahren nicht einfach. Es gab viele Etappen: Scheitern, Verlieren, sich scheiden lassen, Kinder. Aber der entscheidende Faktor war, dass ich die Fotografie mit Leidenschaft verfolge, wenn auch als lebensunterhaltende. Ich wollte um jeden Preis danach streben, ein Foto zu machen, das noch niemand zuvor gemacht hat. Das ist natürlich nicht möglich, aber jedes Mal, wenn ich mich auf eine Reise begebe, möchte ich einer Schönheit näherkommen, die man nicht sehen, aber fühlen kann, weil ich tiefer und tiefer in Verbindung mit anderen Menschen trete.
Dafür reise ich durch sehr komplizierte Teile der Welt, wie aktuell durch Länder wie Afghanistan, den Iran oder Saudi-Arabien. Ich komme als privilegierter, weißer Mann mittleren Alters mit einer großen 8×10“ Analogkamera dorthin. Und überall werde ich gut aufgenommen und behütet, weil die Menschen spüren, dass ich sie auf eine andere Art zeige, als das Narrativ, das ihnen von anderen aufgedrückt wird. Ich komme als Jimmy, nicht als Journalist, sondern als Künstler. Das spüren die Menschen und nehmen mich entsprechend wahr.
Was ich suche, ist die Verbindung zu ihnen. Die Fotografie ist dazu nur ein Vorwand. Es geht um den Moment, in dem die Begegnung dazu führt, dass er mich nicht wegen meines Aussehens oder meiner Kamera, meiner Herkunft oder meiner Privilegien wahrnimmt, sondern als Jimmy …
Die Reise, auf der ich mich befinde, ist die zur Selbstreflexion und der Liebe zu mir selbst. Ich versuche, zu dem kleinen Kind zurückzufinden, das ich mit sieben Jahren wahr. Ich war mir weder meiner Hautfarbe, noch meiner Ethnie, meiner Sprache oder meiner Privilegien bewusst. In diesem Prozess befinde ich mich.
Wie finden Sie Ihren Protagonisten?
Wir finden uns gegenseitig. Vieles hat damit zu tun, dass man sich in die Welt begibt und ihr vertraut. Vor ein paar Monaten war ich zum Beispiel im Südsudan. Ich wollte dort schon lange einen bestimmten Stamm besuchen, zu dem ich zehn Jahre lang recherchiert habe, und im Februar war es endlich so weit. Und das, wonach ich gesucht habe, habe ich gefunden.
In der gründlichen Vorbereitung liegt also das Geheimnis?
Unter anderem, aber bei keiner Reise, die man antritt, ist etwas garantiert. Ich weiß nie, was passieren wird. Viele Reisen mache ich ohne Kameras, um erst einmal Kontakt aufbauen zu können. Aber ich mache keine anthropologische National Geographic Studie über die letzten Kulturen der Welt. Ich versuche neu zu definieren, wie ich mich selbst durch die Augen der anderen sehe.
Warum glauben Sie, dass dieser Prozess für andere relevant ist?
Bis vor wenigen Jahren dachte ich tatsächlich nicht, dass dies der Fall sein könnte. Damals wurden meine Bilder erstmals über Beamer als immersives Erlebnis präsentiert. 99,9 % der Besucher hatten keine Ahnung, wer ich bin oder was sie zu sehen bekamen. Aber als sie die Präsentation verließen, einte sie ein Gefühl der Ehrfurcht, der Demut, der Zerbrechlichkeit und der Schönheit. Die Besucher bekamen die Gelegenheit, ihre Sicht auf den anderen und vielleicht auch auf sich selbst in der Welt neu zu definieren. Ob sich dadurch für diese Menschen langfristig etwas geändert hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es mein Leben verändert hat. Wenn wir uns selbst nicht mögen, wie zum Teufel sollen wir dann jemand anderen mögen? Wenn wir andere nicht mögen können, wie sollen wir dann die Welt mögen, in der wir leben?
Wenn jemand eines Ihrer Bilder kauft, um es an seine Wand zu hängen, wird es ihm dabei helfen, sich selbst zu mögen?
Ich kann das nicht für andere beantworten, aber jeder, der eines meiner Bilder kauft, ermöglicht mir damit, meine Arbeit fortzusetzen.
Warum fotografieren Sie im 8×10“ Format?
Es gibt eine technische und eine romantische Antwort. Die romantische Antwort gebe ich zuerst, weil sie wichtiger ist.
Natürlich können wir mit unseren Smartphones innerhalb kürzester Zeit hunderte Bilder machen. Mir geht es aber nicht in erster Linie um das Bild, sondern um den Prozess, der dorthin führt. Wenn man allein mit zwei Schachteln Film reist, hat man 20 Möglichkeiten, ein Bild zu machen. Bei IS0 50 liegen die Erfolgschancen nicht sehr hoch. Dabei ist man mitten im Nirgendwo und kann das Bild nicht unmittelbar kontrollieren.
Ich versuche, ohne Assistenten zu arbeiten, die Menschen bei natürlichem Licht, ohne Blitz in der Landschaft zu zeigen. Das ist die reinste Form der Fotografie. Weil ich dazu viel Gefühl und Energie investiere, überträgt sich das auf mein Gegenüber. Ich stecke mit dem Kopf unter einem Tuch, schwitzend, weinend, zitternd, hungrig, frierend, ängstlich. Ich brauche manchmal eine Woche, bis das Licht endlich perfekt ist.
Technisch betrachtet strebe ich mit den großformatigen Negativen nach extrem detailreichen Bildern. Denn das Tüpfelchen auf dem i ist, wenn man sein Bild nicht auf Instagram, sondern an einer Wand zeigt, drei mal vier Meter groß.
Das große Aufnahmeformat reduziert außerdem die Schärfenebene, lange Verschlusszeiten von fünf Sekunden sorgen für Bewegungsunschärfe, so dass oft alles unscharf ist außer dem Gesicht. Das macht den Unterschied zu den fünfeinhalb Milliarden zum Teil sicher sehr guter Digitalfotografen. Zwei Drittel der Weltbevölkerung sind heute Fotografen, doch nur sehr wenige Bilder zeigen eine Handschrift, die niemand sonst hat.
Und das Wichtigste ist, dass auf dem Negativ genau das ist, was man an der Wand sieht, und das ist mit der Hand und dem Herzen gemacht, nicht mit einer Maschine und Pixeln. Der Wert dessen, was an der Wand hängt, bestimmt schließlich nicht das Papier oder der Rahmen. Es ist dieses eine Negativ, das den Unterschied macht.
Bekommen die Protagonisten ihre Bilder eigentlich jemals zu sehen?
Ja, wenn auch nicht sofort, ich reise aber zurück, entweder mit den Bildern oder mit fertigen Büchern. Viele sind aber weniger an einem Bild von sich interessiert, sondern vielmehr am Wiedersehen. Wir dagegen sind sehr darauf fixiert, wie wir und die anderen aussehen.
Und wie geht die Reise weiter?
Gute Frage. Ich fahre heute eine weitere Woche in die Wüste. Danach fliege ich nach Hause, um meine drei Kinder zu sehen. Sie sind alle Twens, aber ich versuche immer noch, das Gleichgewicht zu halten, meinen eigenen Scheiß zu regeln und ein verlässlicher Vater zu sein. Das ist ein sehr wichtiger Teil meiner Reise. Ich habe mich vor vier Jahren, im Alter von 52 Jahren, zum ersten Mal verliebt, weil ich erstmals geglaubt habe, dass ich es wert bin, geliebt zu werden und Liebe für jemand anderen zu empfinden. Das zu wagen, zu glauben, dass das möglich ist, ist eine wichtige Etappe meiner Reise.
Richard Avedon sagte kurz bevor er starb, dass alles, was er tat, darin bestand, die Menschen zu lieben. Ich mag seltsam und exzentrisch sein, aber mein Ziel ist etwas ganz Ähnliches. Die Art, wie ich die Welt sehe, mag richtig oder falsch sein, aber Fotografie ist ein unglaublich mächtiges Werkzeug, zu kommunizieren. Ich habe noch 30 Jahre vor mir. Es gibt also viel zu tun, und ich werde daran bis zu meinem Todestag arbeiten.
Zur Person
Jimmy Nelson wurde 1967 in Sevenoaks, England, geboren. Seine Arbeiten betonen die Schönheit, Vielfalt und Authentizität menschlicher Erfahrungen. Mit akribischer Liebe zum Detail sind Nelsons Bilder geprägt von einem Streben nach Harmonie in Komposition, Farbe und natürlichem Licht.
Seit seinen ersten international anerkannten Fotografien von Tibet vor fast 30 Jahren hat Jimmy mehrere wichtige Fotobücher veröffentlicht, darunter Before They Pass Away (2013) und Homage to Humanity (2018). Im Laufe der Jahre hat er unzählige indigene Gemeinschaften auf der ganzen Welt besucht und über die Jimmy Nelson Foundation gegenseitige Projekte gefördert. Im Jahr 2022 veröffentlichte er Between the Sea and the Sky, eine Hommage an die traditionellen Kulturen der Niederlande, seiner Wahlheimat.
Derzeit arbeitet Jimmy Nelson an einem neuen Projekt in Zentralasien und im Nahen Osten. Dieses Projekt soll eine Lücke in seinem Vermächtnis füllen, mit dem er unter dem Titel The Canvas of Humanity einen lebendigen Wandteppich aus Geschichten erzählt, die die verschiedenen Kulturen ehren sollen, die unsere Welt prägen. Jimmy Nelsons Kunst wird in Galerien, Museen und Privatsammlungen auf der ganzen Welt ausgestellt, um ein tieferes Verständnis für die Vielfalt der menschlichen Kulturen zu wecken und die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken.